veröffentlicht in der Volksheilkunde 2/2005
in der Serie „Klassische Homöopathie – Komplexmittelhomöopathie“

Heilen oder Recht haben?

Zu Doppelmitteln, Nachvollziehbarkeit und Hahnemanns überraschender Flexibilität

Ich danke Herrn Hollitzer für seine eingehende Darstellung des aufschlussreichen Schriftwechsels Bönninghausens mit Hahnemann über die Gabe so genannter Doppelmittel, samt Zitation der Originalquellen, in der ‚Volksheilkunde‘ 1/2005. Ein wertvoller Beitrag für eine ideologiefreie Diskussion der Angelegenheit, und in der Tat kann jeder Kollege und jede Kollegin nur den für sich selbst schlüssigen Weg finden. Dem Rückschluss von Herrn Hollitzer, dass Hahnemann auch didaktische Gründe hatte, den für die fünfte Auflage des Organon der Heilkunst einst geplanten „Doppelmittel-Paragraphen“ zurückzuziehen, teile ich. Solche didaktischen Erwägungen sollten jedoch in unmittelbarem Kontext gesehen werden mit den methodischen Anforderungen einer kunstgerechten Fallverlaufsanalyse und Folgeverschreibung, welche bei gleichzeitiger Gabe von zwei verschiedenen Mitteln in schwierigeren Fällen allenfalls noch Meistern möglich ist. Bei standardisierten Mehrfachkombinationen sind die von Hahnemann beschriebenen Kriterien, beispielsweise zum Mittelwechsel, schlicht nicht mehr anwendbar. Die Therapie chronischer Beschwerden kann auf diese Weise, auch bei guten Anfängen, bald im Nebel steckenbleiben. Diese Aussage, die immerhin auch eigene Erfahrungen aus meinen allerersten Praxisanfängen einschließt, werde ich im Folgenden näher darlegen.
Der Begründer der Homöopathie hielt selbst wenig auf Autoritäten. Mit oder ohne Autorität: wie auch immer wir therapieren, die unserem Tun zugrunde liegenden Geistes- und Naturgesetze sollten wir kennen. Die lediglich absatzzählenden Paragraphen des Organon brauchen uns nicht zu hindern, Dinge in Frage zu stellen, Irrtümer zu entdecken, weiter zu forschen und eigene Antworten zu finden. Problematisch ist mitunter nur, wenn Konzepte (auch einzelmittel-homöopathische), die erkenntnistheoretisch, methodisch und praktisch weit hinter Hahnemanns ganzheitlichen Ansatz zurückfallen, sich als revolutionäre Neuerung der Homöopathie ausgeben.
Aus meiner Sicht stellt sich nicht die Frage, ‚wirken‘ Doppel- und Kombimittel oder ‚wirken‘ sie nicht. Selbstverständlich können sie wirken und sicherlich vermögen sie in vielen Fällen auch zu helfen. Also: ‚wer heilt, hat Recht‘, und damit ist jede Diskussion erledigt?
Heilen ist gut, ‚Recht haben‘ ist eine andere Baustelle. Zum Heilen jedenfalls bringt ‚Recht haben‘ weniger als nichts. Hahnemann war selbst ein ordentlicher Streiter und musste dies zu seiner Zeit wohl sein; die methodischen Qualitäten der Homöopathie liegen auf anderem Felde. Schon im zweiten Organon-Paragraph fordert Hahnemann Heilung „nach deutlich einzusehenden Gründen“ – geht es hier um irgendein Recht haben? Nein, es geht um die Nachvollziehbarkeit. Ganz sicher und zu allen Zeiten gab es, vereinzelt zumindest, begnadete Heiler, die ihre Methode jedoch kaum vermitteln konnten. Zur Weitervermittlung gehört hingegen die methodische Nachvollziehbarkeit; bedeutet: wenn ich die gleichen Gesetzmäßigkeiten befolge, komme ich zu vergleichbaren Ergebnissen.
Durch gesetzmäßige Nachvollziehbarkeit auch im Heilungsverlauf hebt sich die Homöopathie historisch aus der bloßen Erfahrungsheilkunde heraus. Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten wie auch der Arzneiwirkungen ist in der Homöopathie das Brennglas, die Optik, die überhaupt erst Rückschlüsse erlaubt aus unseren Beobachtungen. Zur reinen Empirie, zur bloßen Erfahrungsheilkunde mit Mischrezepten äußert sich Hahnemann und vergleicht diese mit einem anderen ‚optischen Gerät‘ (Org. § 25, Anm.):
„Eine fünfzigjährige Erfahrung dieser Art ist einem fünfzig Jahre langen Schauen in ein Kaleidoscop gleich, was, mit bunten, unbekannten Dingen angefüllt, in steter Umdrehung sich bewegt; tausenderlei sich immerdar verwandelnde Gestalten und keine Rechenschaft dafür!“.
Die Frage der methodischen Nachvollziehbarkeit begegnet uns mehr noch als bei unserer ersten Verschreibung, wenn nun bei den Folgeterminen weitere Verschreibungen und womöglich Mittelwechsel angezeigt sind. Sofern nicht der chronisch Kranke durch eine einzige Arzneigabe geheilt wäre, doch die selteneren Wunder klammere ich hier aus. Jeder Homöopath kennt die Standardkriterien für Folgeverschreibungen: welche Beschwerden in welchen Bereichen besserten sich, blieben unverändert oder verschlechterten sich; falls es neue Symptome gibt, liegen diese im Wirkungskreis der zuletzt verschriebenen Arznei oder nicht, kennt der Patient sie von früher, dann Herings Beobachtungen, die psychische Lage und so weiter. Jeder homöopathische Praktiker hat schon erlebt, dass es nicht immer ganz einfach ist, den Verlauf zu beurteilen, dass eine klare Verlaufsanalyse jedoch der Grundstock ist für eine hilfreiche Folgeverschreibung. Und in der Mehrzahl der chronischen Fälle brauchen wir solche Mittelfolgen, um den Patienten zu heilen.
Das populärhomöopathische Märchen vorgeblicher Konstitutionsmittel, die einem Menschen, seinem Sternzeichen gleich, lebenslang zugeordnet bleiben und in fast jeder Lage helfen sollen, lasse ich hier ebenso außen vor. Der Begriff des Konstitutionsmittels ist, wenngleich gelegentlich das Richtige (nämlich ein chronisch wirkendes Mittel) gemeint ist, als solcher irreführend und führt zu einer gewissen Starre in der Verschreibungspraxis. Konstitution an sich, behaupte ich, ist ähnlich behandlungsresistent wie blaue Augen oder blonde Haare; nur als Hintergrundinformation kommt sie bei der Arzneimittelwahl zum Tragen. In gewissem Rahmen behandelbar sind allerdings aus einer gegebenen Konstitution entspringende Krankheitsdispositionen. Bei Hahnemann, Bönninghausen und allen frühen Homöopathen sehen wir keine festgeschriebenen Konstitutionsmittel, sondern eine außerordentliche Flexibilität im Mittelwechsel! Dieser war, wie wir in den jeweiligen Krankenjournalen sehen, durchweg üblich und nicht Ausnahme. Ja, die Wiederholung ein- und derselben Arznei ohne Zwischengebrauch einer anderen bezeichnet Hahnemann als ‚Wagstück‘ (CK Bd. 1, S. 159). Doch bei aller Flexibilität folgte der Mittelwechsel klaren Regeln, die wir beispielsweise in Org. §§ 154 – 171 beschrieben finden. Ohne Kenntnis der Gesetze und der Arzneiwirkungen wird es kaum gelingen, den Verlauf richtig zu interpretieren. Wie wollen wir dann eine zufriedenstellende Tiefe und Nachhaltigkeit in der Heilung erreichen? Wenn Verlaufsanalyse und Folgeverschreibung schon nach Verschreibung eines einzelnen Mittels eine mitunter komplexe Angelegenheit sein kann – warum sollen wir uns diese anspruchsvolle Aufgabe künstlich erschweren mit Doppelmittelverschreibungen? Als solche ungeprüfte Vielgemische schließlich hebeln, jedenfalls soweit wir mit potenzierten Arzneien arbeiten, die von Hahnemann geforderten ‚deutlich einzusehenden Gründe‘ und damit die Nachvollziehbarkeit vollends aus und bringen uns in die Gefilde blinder Empirie. Wem sollen wir da vertrauen, außer im konkreten Fall oft nicht übertragbaren Erfahrungswerten und vielleicht noch Firmennamen?
‚Wirken‘ mag das eine wie das andere und niemand hat Anlass, sich Unfehlbarkeit anzumaßen. Das einzige Privileg derjenigen, die sich bemühen nach ‚deutlich einzusehenden‘ und nachvollziehbaren Gründen zu therapieren ist, dass sie in anderer Weise lernen werden aus ihren Fehlern. Eben dies war für mich persönlich einer der Entscheidungsgründe zur klassischen Homöopathie, ohne dass ich anders arbeitende Kollegen und Kolleginnen deswegen weniger achte.
Abschließen möchte ich mit einer diplomatischen und zugleich weisen Antwort, die Hahnemanns Schüler G.H.G. Jahr zur Doppelmittelfrage gibt. Die Freiheit zu doppelten Mittelgaben und sonstigen Regelüberschreitungen überlässt Jahr gerne dem Meister, nicht jedoch dem in der Arzneiwahl oft unentschiedenen Anfänger – ein Weg, den auch nach 200 Jahren Homöopathie wohl jeder selbst gehen muss. In seinem ‚Leitfaden zur Ausübung der Homöopathie‘, § 32 liest sich das so (Hervorhebung durch Jahr selbst):
„Mag daher der gereifte Arzt, oder überhaupt jeder Praktiker in seiner Praxis thun, was er will, und Versuche jeder Art machen, wie es ihm beliebt: die Lehre, die Doctrina als solche, kann nur sichere, auf feste Prinzipia und Regeln gegründete Methoden anempfehlen, und sie muss demnach fest darauf bestehen, dass in allen Fällen nur ein einziges, dem Falle bestmöglich angemessenes Heilmittel auf einmal gereicht und nicht eher in seiner Wirkung unterbrochen werde, als bis es klar ist, dass von seinem weitern Fortgebrauch und seiner weiteren Wirkung kein fernerer Heilerfolg zu erwarten steht. Und an diese Regeln wünschen wir, dass sich jeder Anfänger streng und feste hielte, bis ihm die Flügel gewachsen sind, und er auf dem Felde der sicheren Methode hinlängliche Erfahrung gesammelt, um ohne Gefahr, wenn er es ja will, von da zuweilen in das Reich der Versuche hinüberzuschwärmen. Nur der Meister kann und darf sich über die Regeln erheben, nicht der Lehrling; denn nur der erstere weiß, was er thut, und wenn er ausschweift, tut er es mit Einsicht und Kenntnis der Sache und des Feldes, auf dem er sich bewegt, während der Lehrling in’s Blaue hineinwandelt und aus Mangel an hinreichender Erfahrung nicht einmal weiss, was er macht und wohin er geht.“

Carl Classen
Heilpraktiker
Kirchstraße 10
76229 Karlsruhe

Literatur:
Org. = Samuel Hahnemann, ‚Organon der Heilkunst‘, 6. Auflage, Paris 1843/Leipzig 1921
CK = Samuel Hahnemann, ‚Die chronischen Krankheiten‘, Dresden und Leipzig 1835
G.H.G. Jahr, Leitfaden zur Ausübung der Homöopathie, Leipzig 1854