Metapathie –
Fundstücke zu einer medizinhistorischen Verdrängungsleistung

(Artikel, erschienen in der Homöopathie-Zeitschrift 99/2. Alle Rechte beim Autor)

Wenn in der bildungs- und forschungspolitischen Diskussion von immer kürzer werdenden Halbwertszeiten wissenschaftlicher Erkenntnisse die Rede ist, dann entspringt dies seltener einer kritischen Reflexion gängiger Erkenntnismethoden als vielmehr einer postulierten Dringlichkeit, dem Fortschritt in immer schnelleren Spiralen hinterherzueilen.

Interessant scheint da ein Fund im Familienarchiv, ein Artikel aus der Zeitschrift ‘Orthopädische Praxis’, Heft 8/1976, von der Hand meines Großvaters Dr. C. Rabl (1894 – 1982). Beklagte dieser als Arzt doch nicht selten, dass mit dem Gewinn an Wissen aus neueren medizinischen Forschungsergebnissen zugleich älteres, deswegen jedoch therapeutisch nicht unbedeutendes Wissen oft zugleich vergessen würde und verloren ginge. Freilich konnte er selbst sich diesem Phänomen auch nicht ganz entziehen. So setzt er sich in folgend kommentiertem Artikel ausführlich mit dem Thema der Unterdrückung von Krankheitserscheinungen und nachfolgend anderen, oft schlimmeren Erkrankungen auseinander, anscheinend ohne zu ahnen, welchem medizinischen System die umfassensten und grundlegensten Beschreibungen eben genau dieser Problematik entstammen.

Da ich eben die Thematik von Krankheitsverschiebungen und Unterdrückungen für ein tieferes Verständnis von Heilungsprozessen, mithin für das übergeordnete Streben nach einer menschengerechten Heilkunde für essentieller halte als die Frage, ob wir mit potenzierten Mitteln (oder eben sonst anders) heilen, finde ich es durchaus hilfreich, in Quellen außerhalb homöopathischer Veröffentlichungen fündig zu werden und solches Material zu sammeln. Auch bei Lektüre aktueller medizinischer Zeitschriften können wir immer wieder homöopathische Gesetzmäßigkeiten innerhalb der anwandten Lehrmedizin beobachten – man denke nur an die vielen Berichte über ‘paradoxe’ Wirkungen von Kopfschmerzmitteln, Asthmamitteln, Psychopharmaka.

Der erwähnte Zeitschriftenartikel, ein Vortragsmanuskript, trägt die Überschrift ‘Metapathie’. Diese Bezeichnung wird zugleich für das ‘Wandern’ und ‘Springen’ von Krankheitserscheiungen vorgeschlagen, in Anlehnung an Wörter wie ‘Metamorphose’ oder ‘Metastase’. Eine Reihe von Beispielen wird genannt, wie wir sie in solcher Häufung sonst eher in der homöopathischen Literatur kennen:

So Schmerzen einer bis dahin stummen Coxarthrose nach Behandlung einer Epikondylitis mittels Kortisoneinspritzung, oder das ‘Springen’ der Schmerzen bei Spondylarthrosen und Osteochondrosen zwischen der oberen und unteren Wirbelsäule, bis schließlich nach gänzlichem Verschwinden der Rückenschmerzen unvermittelt Beschwerden innerer Organe in Erscheinung treten, oder ein Fall von Lungentuberkulose, in dessen Verlauf sich kurz vor dem Tod ein Unterschenkelgeschwür schloss, oder ein durch Röntgenstrahlung induzierter Strahlenulcus auf dem Rücken, das nach Jahren plötzlich heilte, kurz bevor der Patient an einem sich rasch entwickelndem Magenkarzinom starb… die Kette wird fortgesetzt, soweit nicht aus der eigenen Praxis, dann mit entsprechenden Quellenangaben.

Manche Krankengeschichten sind für sich schon ganze Ketten: ein Patient, der nach Verschwinden seiner Schweißfüße eine Thrombophlebitis entwickelte, nach deren Heilung Claudicatio intermittens auftrat und danach wiederum eine rheumatische Entzündung der Zehengrundgelenke. Ein weiterer Patient wird erwähnt mit spontanem Wechsel der Symptomatik ohne Behandlung, und zwar Schweißhände und -Füße jeweils im Wechsel mit Schmerzen in Kopf, Magen oder Hals, oder Einschlafen der Hände und Füße oder Schwellungen einzelner Gelenke.

Ein Naturheilkundler war Dr. Rabl nicht, doch erwähnt er den möglichen Erfolg ‘umstimmender’ Kuren. Er will kein Nihilist sein und meint, man müsse nur ‘hartnäckig’ genug vorgehen. Belegen soll dies ein Fall, der nach einer mittels Phenolkampfereinspritzungen therapierten Infektarthritis erst ein Erysipel im Gesicht und nach dessen Heilung eine oberflächliche Phlebitis entwickelte, dann aber ein gutes Jahr gesund war. Als ‘günstig verlaufen’ bezeichnet wird auch der Fall einer Sprungelenkarthrits nach Abheilung einer rückfälligen Krampfaderblutung, der Phlebitis folgte und nach deren Verschwinden die Vereiterung eines Atheroms sowie Furunkel folgten, ‘danach aber ging es weiterhin gut’. Wie lange, wird nicht gesagt. Doch scheint er da selbst nachdenklich zu sein, wenn er gleich mit einem weiteren Beispiel anschließt, wie die gleichen Krankheitserscheinungen auch ‘nach längerer Heilung’ von einigen Jahren wieder neu auftreten können.

Die populäre Redensart des ‘nach innen Schlagens’ von Leiden wird zitiert, an ihr sei wohl etwas Richtiges dran. Ebenso die Warnungen älterer Ärzte, beispielsweise ein offenes Beine nicht zugehen zu lassen – was er als junger Anfänger noch für faule Ausrede hielt. Der Autor verwendet das Wort Heilung in den erwähnten Fällen relativ unbekümmert, legt aber insgesamt den Schluss nahe, dass das krankhafte Geschehen als solches wohl trotz allen Wechseln der Erscheinungsform geblieben sei. Die ‘Ableitung auf den Darm’ wird als harmlose alte Methode erwähnt, doch harmlos ist freilich keineswegs alles, was auf solchen Wegen zu erzielen ist. Denn das gleiche Prinzip bei schweren Erkrankungen angewandt, bringt ganz direkt zu jenen ‘heroischen’ Methoden, zu denen sich Arzt und Patient nur in einigermaßen verzweifelten Lagen entschließen konnten. Zitiert werden die von Wagner-Jauregg praktizierten Malaria-Kuren bei Syphilitikern, sowie ein Fall aus der Literatur von Tabes dorsalis mit Ataxie und schweren Schmerzen, der durch eine künstliche Infektion mit Rattenbißkrankheit (Leptospirose) geheilt wurde. Mein Großvater stand als Orthopäde zu sehr auf dem Boden der Tatsachen, um schwere Erkrankungen nur mit Blümchen behandeln zu wollen; von der Homöopathie Hahnemanns war er zu weit entfernt.

Das von ihm als ‘Metapathie’ genannte Phänomen sei eher etwas Typisches denn als selten zu bezeichnen. So sei er nach besagtem Vortrag darauf hingewiesen worden, dass ein gewisser W. Hellpach das Phänomen vor langer Zeit schon beschrieben und mit dem Namen ‘Aporrhexis’ (von aporrheein = hinwegfließen) belegt habe. Vielmehr würde einem diese Naturerscheinung ziemlich oft begegnen, wenn nur die Anamnese gründlich genug erhoben würde. Oft würden solche Fälle als Hysterie eingestuft mit Flucht in die Krankheit und auch in der Ausbildung würde kaum darauf hingewiesen…

Um es abschließend mit eigenen Worten zu sagen: Ob Metapathie, Aporrexis oder Hering’sche Regel genannt, der Eindruck bleibt hängen, dass wir hier mit einer historischen und kollektiven Verdrängungsleistung innerhalb der medizinischen Forschung zu tun haben. Da die Vorgänge bei Langzeitbeobachtung unabhängig von den jeweils angewandten Behandlungsverfahren wahrzunehmen sind, betrifft die Verdrängung die Gesamtmedizin und hat mit Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen therapeutischen Richtungen nur sekundär zu tun.

Carl Classen, 1999

Zum Seitenanfang