Organon der Heilkunst: Bibel der Homöopathie?
erschienen in Globuli 2/2002, bearbeitet 2018
Um es vorneweg zu sagen: eine „Bibel“, wie das manchmal heute referiert wird, ist Samuel Hahnemanns Organon der Heilkunst natürlich gerade nicht. Alleine schon, weil die Homöopathie kein Glaubenssystem und keine Heilslehre ist. Es handelt sich um ein medizinisches Manifest, 1810 erstmals veröffentlicht mit dem nicht geringen Anspruch, die Medizin als Pharmakotherapie zu revolutionieren. Zugleich handelt es sich um die methodische Grundlegung der Homöopathie als Heilkunst. Ein Studium des Organon kann in qualifizierten Ausbildungen auch heute aus zwei Gründen sinnvoll sein: Sich die methodischen Grundlagen anzueignen, aber auch die Aussagen Hahnemanns in ihren historischen Kontext einordnen zu können. Ein vor 200 Jahren entstandenes medizinisches System ohne Verständnis des damaligen Umfelds 1:1 in die Heute-Zeit zu übertragen schafft unweigerlich Missverständnisse, die es heute auszuräumen gilt. Ein historisch-kritisches Studium der Quellenliteratur fördert das eigenständige Denken und wirkt allen dogmatischen Anwandlungen entgegen.
Damit entsprechen wir durchaus der Absicht des Organon. Der Begriff wurde einst von Aristoteles geprägt, in der Bedeutung eines „Werkzeug der Erkenntnis“. In die Hand gegeben ist uns ein geistiges Instrument, das als solches angewendet und auch überprüft werden darf. Ein Werkzeug, mit dem wir Lebensgesetze im Bereich der Gesundheit und Heilung erkennen, nachvollziehen, therapeutisch anwenden und beobachten können. Denn die Homöopathie war von Beginn an ein Kind des kritischen Hinterfragens und nicht des blinden Glaubens. Gebildeten Patienten gab Samuel Hahnemann sein Organon der Heilkunst sogar zum Lesen mit; er legte Wert auf aufgeklärte Patienten und hoffte, auf diesem Wege auch die Homöopathie zu verbreiten. Dafür ist das Organon heute ganz sicher nicht mehr geeignet, da sich schon der sprachliche Zugang nicht ganz einfach gestaltet.
Und was steht drin, in diesem Organon? Gegenstand sind die theoretischen und praktischen Grundlagen der Homöopathie, eine Systematik grundlegender Krankheitsarten, das Vorgehen bei Anamnesen und Arzneimittelprüfungen, die Grundlagen der Arzneiwahl, der Arzneianwendung und der Verlaufsbeurteilung sowie der Umgang mit Heilungshindernissen. Trotz Längen in einigen Passagen, die sich mit der Medizin der damaligen Zeit auseinandersetzen, werden fast alle bis heute relevanten Aspekte homöopathischer Methodik in einer großen Dichte dargelegt. Im Studium kann dann diskutiert werden: Wo können wir unmittelbar an Hahnemann anschließen, und wie können wir heutige Erkenntnisse und Erfahrungen hinzustellen?
Hahnemann stellt hohe Anforderungen an heutige Leser mit oft langen und schachteligen Sätzen, ähnlich wie zu seiner Zeit bspw. auch Heinrich von Kleist schrieb. Hahnemann war auch kein guter Didaktiker, Didaktik und eine leichter nachvollziehbare Systematik brachten seine wichtigsten Schüler G.H.G. Jahr und C.v. Bönninghausen. Und doch erweist der Originaltext in seiner Aussagedichte als reicher denn alle neuzeitlichen Versuche sprachlicher Glättung. Im Organon finden wir den Grundbau der Homöopathie, den Hahnemann über verschiedene Auflagen hin immer wieder auf seinen neuesten Stand brachte und, abgesehen von seinen sehr umfangreichen Arzneimittelprüfungen, fast nur noch durch seine Ausführungen zur Behandlung chronischer Krankheiten erweiterte.


Gegen Anfang des 20. Jahrhunderts geriet das Organon selbst unter den Homöopathen vielfach in Vergessenheit. Die Homöopathie schien altmodisch gegenüber den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn schon Homöopath, wollte man modern sein und gab neuen Lehren, wie Virchows Zellularpathologie, mehr Gewicht als den alten Schriften. Leider bemerkten Viele nicht, dass mit der Entfernung von Hahnemanns Organon oftmals der ganzheitliche — insofern von Beginn an „modernere“ — Ansatz der Homöopathie verlassen wurde, oder aber einer bodenlosen esoterischen Spielwiese Tor und Tür geöffnet wurden.

Carl Classen


